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Die Kunst der Vergebung

Die Kunst der Vergebung


Wie wir die Wunden der Vergangenheit heilen

Das Bild zeigt einen Menschen, der vor einer riesigen, schier unüberwindlichen Mauer aus Beton steht, die sich in der Mitte einen Spalt breit öffnet. Ein Lichtstrahl fällt hindurch - Sinnbild für Vergebung.

»Wir werden einander viel verzeihen müssen.«

 

In diesen Tagen jährt sich der Ausbruch der Corona-Pandemie zum fünften Mal, begleitet und erregungsbewirtschaftet von erheblichem medialem Interesse. Und während ich mich frage, ob wir nicht gerade ganz andere Probleme haben, begegnet mir dieser eine Satz wieder, der für mich zum Schlüsselsatz jener Jahre mit C geworden ist: "Wir werden einander viel verzeihen müssen." Erinnert ihr euch noch daran? Der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn wollte uns damals mit diesem Imperativ darauf aufmerksam machen, dass wir alle fehlbar sind und auf Vergebung angewiesen, wenn wir nach der Spaltung durch die Pandemie wieder zueinander finden wollten. 

 

Aber, wie geht das mit dem „Verzeihen müssen“? Müssen wir wirklich? Und wie finden wir wieder zusammen? Wie heilen wir, wenn die Verletzungen so tief sind? Wollen wir das überhaupt?

 

Wozu brauchen wir Vergebung?

 

Vergebung ist eines der tiefgreifendsten und zugleich herausforderndsten Kernelemente unseres Lebens. Sie betrifft uns als Person, als Paare, Familien, Gesellschaft und als Menschheit. Sie ist für uns alle essenziell, denn sie entscheidet darüber, ob wir in Frieden miteinander leben oder ob wir an Groll, Schmerz und Spaltung zerbrechen.

 

Entsprechend dieser Bedeutung haben sich viele Denker*innen immer wieder mit dem Verzeihen beschäftigt. Die deutschstämmige Philosophin Hannah Arendt sprach davon, dass Vergebung notwendig sei, weil wir ohne sie in einem Kreislauf von Vergeltung gefangen blieben. Friedrich Nietzsche hingegen sah in der Vergebung eher eine Form von Machtverzicht. Der Psychologe Carl Rogers betonte, dass echte Vergebung erst möglich ist, wenn wir Mitgefühl – auch für uns selbst – entwickeln.

»Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«

 

Die radikalste Interpretation der Vergebung verdanken wir allerdings einem arbeitslosen Zimmermann. „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Diese Worte soll Jesus von Nazareth gesprochen haben, nachdem man ihn an ein Kreuz genagelt hatte. Er richtete sie an diejenigen, die ihn gefoltert und verurteilt hatten, die ihn verraten, verkauft und im Stich gelassen hatten. Sie wirkten und wirken auf uns in ihrem restlosen Verzicht auf Groll beinahe übermenschlich. Dabei bedeuten sie nicht, dass Vergebung leicht sei. Sie verdeutlichen vielmehr, dass Vergebung eine Entscheidung ist, die weit über unseren Schmerz hinausgeht. Dass sie eine Haltung ist, die unser eigenes Herz heilt – unabhängig davon, ob die andere Seite Reue zeigt oder nicht.

 

All you need is Love?

Wenn wir dem Beispiel Jesu folgen, stellen wir fest, dass Vergebung neben einem gewissen Maß an mentaler Disziplin vor allem der Nächstenliebe bedarf - in seinem Fall der bedingungslosen Nächstenliebe. Weil uns das aber damals wie heute wohl ein wenig viel verlangt erscheint, haben wir Jesus eine Art übermenschlichen Sonderstatus zugesprochen, dem wir fortan so gut es eben geht nacheifern sollen, ohne ihn jemals erreichen zu können, geschweige denn zu müssen. Denn auch wenn es uns manchmal schwerfällt zu vergeben, können wir uns doch darauf verlassen, dass Gott in Gestalt von Jesus das immer tun wird. Sehr praktisch.

Vermutlich erscheint uns die Bedingungslose Liebe in Form von Vergebung deshalb so wenig attraktiv, weil wir sie in erster Linie mit Verzicht und Selbstaufgabe assoziieren. Tatsächlich ist das aber ein Irrtum:

Vergebung bedeutet nicht nur, dass wir der anderen Person ihre Schuldgefühle erlassen, sondern dass auch wir uns selbst von der schmerzlichen Erfahrung verabschieden und heilen können, um unbeschwert weiterzuleben.


Der Verzicht auf Groll oder gar Rache bedeutet nicht, dass die Tat der anderen Person ohne Konsequenzen bleibt. Wir können zum Bespiel eine Straftat verzeihen, die natürlich dennoch von Gesetzes wegen geahndet wird.


Vergebung bedeutet nicht, dass wir unsere eigene Position aufgeben oder die des anderen gutheißen müssen. 


Wenn wir uns indes entschieden haben, verzeihen zu wollen, stellt sich im nächsten Schritt die Frage: Wie geht das? Und woran erkennen wir, dass wir tatsächlich verziehen haben?

 

Zwischenmenschliche Beziehungen als Übungsmatte

 

Jeder von uns, derdie schon einmal in einer verbindlichen Beziehung gelebt hat, weiß: Wer liebt, wird verletzt. Wer vertraut, wird enttäuscht.

 

Lesetipp

An dieser Stelle möchte ich euch ein fabelhaftes Buch ans Herz legen, das den Umgang mit Vergebung, die verschiedenen Ausdrucksformen und auch die Grenzen des Verzeihens umfassend bespricht.

Prof. Dr. Susanne Boshammer : "Die zweite Chance - Warum wir (nicht) alles verzeihen sollten".


Wenn wir jedes Mal, wenn das passiert, die Beziehung aufkündigen würden, wären wir bald wie Billardkugeln unterwegs. Ohne Vergebung ist ein Miteinander kaum möglich. Wir alle wissen das und tun uns trotzdem schwer damit. Lieber tragen wir die alten Wunden mit uns herum, weil wir glauben, dass Vergeben bedeutet, Unrecht gutzuheißen, Schwäche zu zeigen oder schlimmstenfalls, weil wir glauben, den anderen zu verlieren, wenn wir nicht zum Business-as-usual zurückkehren.

Was an dieser Haltung auffällt, ist, dass der Bezugspunkt immer ein »Ich« oder ein »Du« ist, aber kein »Wir«. Dabei ist es die Beziehung, die am meisten davon profitieren kann, wenn Vergebung zu einer Praktik wird, die alle Beteiligten gemeinsam üben wollen. Wenn wir uns darüber einig sind, dass Vergebung ein gelebter, angestrebter und dabei durchaus umstrittener Bestandteil unserer Beziehung sein darf, kann die Beziehung über Jahre an dieser Praxis reifen und Meisterschaft erlangen.

 

Vergebung ist kein Schalter, sondern ein Prozess

 

Man kann sich nicht zur Vergebung zwingen, schon klar, und sie passiert auch nicht über Nacht. Aber es gibt Schritte, die dabei helfen können, den Prozess des Verzeihens in Gang zu setzen: 

 

Anerkennen, dass der Schmerz da ist – Vergebung bedeutet nicht, den eigenen Schmerz zu verdrängen oder seine Berechtigung zu leugnen. Im Gegenteil: Erst wenn wir anerkennen, dass wir verletzt wurden, können wir loslassen.


Verstehen, dass der andere auch ein Mensch mit Fehlern ist . Manchmal handeln Menschen aus Angst, aus Unwissenheit, aus eigenen Wunden heraus. Das zu erkennen, kann helfen, Groll zu heilen.


Loslassen, ohne zu vergessen – Vergebung bedeutet nicht, dass man eine Tat gutheißt oder alles vergisst. Es bedeutet, sich selbst von der Last der Wut und des Schmerzes zu befreien. 


Selbst Frieden finden – Wir merken, dass wir vergeben haben, wenn wir bei der Erinnerung an das Geschehene nicht mehr von Bitterkeit erfüllt sind, sondern Ruhe empfinden, die von tiefem, gleichmäßigem Atmen begleitet ist.


Selbstfürsorge leben - Wenn ich erkenne, dass ich trotz Vergebung in einer schmerzlichen Situation gefangen bleibe, weil zum Beispiel meine Partner*in mich immer wieder hintergeht, dann wird es Zeit zu handeln. Es macht aber einen großen Unterschied, ob ich im Groll gehe oder im Reinen mit mir und meinen Gefühlen.


 

Die Kraft der Vergebung

 

Vergebung ist also nicht nur ein Geschenk an den anderen, sondern vor allem an uns selbst. Sie befreit uns. Sie heilt. Sie lässt uns wachsen, und sie macht den Weg frei für das Neue. Vielleicht ist das etwas, was wir und unsere Gesellschaft gerade jetzt am dringendsten brauchen.

 

Vielleicht können wir heute damit anfangen.

 

Von Herzen,


Wie wollen wir lieben?


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